Koloniale Geschichten des botanischen Gartens in Potsdam (Teil 2)
Dies ist ein Gastbeitrag von Noam Gramlich und Lydia Kray.
Im folgenden Text, der auf dem ersten Textteil unserer Beschäftigung mit der Kolonialgeschichte des botanischen Gartens in Potsdam basiert, gehen wir auf die Kolonialgeschichte der botanischen Gärten anhand zweier Momente ein: der Gestus der westlichen Wissenschaftler*innen und die Restitution der Pflanzen.
Die Geschichte der Pflanzen und wie sie erzählt werden
Über die Wege, Herkünfte oder manchmal auch den Seltenheitswert einzelner Pflanzen gibt es wenig bis gar kein öffentlich zugängliches Material – wenn es denn überhaupt welches gibt. Auch hier gilt es, sich geduckt durch das Dickicht institutioneller Verbindungen zu bewegen, um an Informationen zu kommen. Es gibt keine offiziellen Verzeichnisse, keine Zeugnisse der Ereignisse, die uns verraten könnten, wie diese großen Sammlungen nicht-endemischer (also nicht-einheimischer) Pflanzen hierhergekommen sind. Informelle Netzwerke zwischen den botanischen Gärten und den Personen, die für sie verantwortlich sind und wiederum deren Verbindungen in die Hochschulen bilden die Grundlage für das Wissen, das es braucht, um diese Geschichten zu rekonstruieren. Anders gesagt: Wie und ob uns diese Geschichten, die für viele andere Geschichten stehen, erzählt werden oder belegt werden können, ist eng verbunden mit dem Willen von Einzelpersonen, sie zu erzählen. Aber auch die Pflanzen selbst künden von ihrer Herkunft. So wie hier kultivierte Tropenpflanzen oft im europäischen Winter blühen und damit einen materiellen Verweis auf die Einbettung in ein anderes Ökosystem liefern, in dem ihre Blüte mit Sonneneinstrahlung und dem Auftauchen von Insekten oder Vögeln in der Sommerzeit verbunden ist. Tatsächlich spricht die Blütezeit der Pflanzen oft eine eindeutigere Sprache über ihre Herkunft als jedes Verzeichnis.
Die Welwitschia, die in Potsdam und vielen anderen botanischen Gärten Deutschlands zu finden ist und natürlicherweise ausschließlich in der Namibwüste Namibias und in Angola vorkommt, ist in vielerlei Hinsicht ein faszinierendes Beispiel für die (Kolonial-)Geschichten die von, über und mit Pflanzen erzählt werden können. Sie ist derart regionalspezifisch, dass sie sowohl auf dem Wappen Namibias wie auf dem der Region Kunene und anderen regionalen Emblemen abgebildet ist.
Die Welwitschia ist eine Wüstenpflanze mit nur zwei langen, am Ende stetig absterbenden und sich verzweigenden Blättern und tiefen Pfahlwurzeln, die in Angola und Namibia unter verschiedenen Namen bekannt ist (n’tumbo, ǃkharos, khurub nyanka oder onyanga). Sie kann bis zu 2000 Jahre alt werden. Sie ist biologisch benannt nach Friedrich Welwitsch, der die Pflanze 1859 in Angola vorfand und sie zur Klassifizierung nach Kew (England) sandte. Welwitsch selbst schlug vor, die Pflanze für die Klassifizierung Tumboa, nach ihrer einheimischen Bezeichnung n’tumbo, zu nennen. Joseph Dalton Hooker allerdings, Direktor des Royal Botanical Gardens in Kew – bis heute einer der artenreichsten der Welt –, der die Pflanze beschrieb und klassifizierte, entschied sich dagegen und benannte sie nach Welwitsch. In der ersten europäischen Beschreibung (1863) der Pflanze kommentiert Hooker das für die europäischen Botaniker*innen außerordentlich ungewöhnliche Aussehen der Pflanze : ”It is out of the question the most wonderful plant ever brought to this country, and one of the ugliest”. Die Pflanze wird bis heute in vielen botanischen Gärten Deutschlands auf Informationstafeln als “hässlichste” oder “merkwürdigste” Pflanze der Welt oder “monströs” bezeichnet. Diese Ausstellungspraxis, die die Welwitschia zu gleichen Teilen mit Faszination, Ekel, Exotismus und Objektifizierung in Verbindung bringt, ist ein sprechendes Beispiel für koloniale Perspektiven, die sich in der Gegenwart fortschreiben. Die Geschichten, die auf diese Weise über die Pflanzen in botanischen Gärten erzählt werden, fremdeln mit den Pflanzen selbst – sie sind oftmals ein Spiegel der Mechanismen anderer Kolonialgeschichten, in denen Entwurzelung und Umbenennung ebenso eine Rolle spielen wie Objektifizierung und Anpassung.
Biodiversität, Restitution und Entwicklungshilfe: der botanische Garten in Sansibar
Wie gegenwärtig Kolonialgeschichten sind, zeigt sich im Gespräch mit dem Kustos des Potsdamer botanischen Gartens, Michael Burkart, als dieser von der Kooperation mit dem botanischen Garten in Sansibar berichtet. Bereits 1870 wurde in der Hauptstadt der Tansanischen Insel Unguja von einem britischen Botaniker ein Garten angelegt.[1] Heute existiert dieser als städtische Grünfläche, nicht aber als Forschung- und Bildungseinrichtung. Im Zuge der vor zwei Jahren gestarteten Klimapartnerschaft Sansibars mit Potsdam wird gegenwärtig die Wiederherstellung des botanischen Gartens vom Deutschen Ministerium für Entwicklungshilfe finanziert. Der Botaniker John Otieno Ndege will im Rahmen dieses Projekt den botanischen Garten Sansibars für lokalen Bedingungen entwickeln. Hierfür sammelt Ndege, so erzählt uns Burkart, die Samen und Ableger der extrem seltenen Arten in den restlichen Wäldern der ostafrikanischen Küstengebieten, in denen nur noch 5 Prozent der einheimischen Bestände wachsen.
Eine der zentralen Aufgaben botanischer Gärten ist der Schutz lokaler Pflanzen und der Erhalt von Biodiversität. Sterben an Folgen von Agrarindustrie und Klimawandel die Pflanzen aus, beherbergen und vermehren die Gärten „pflanzliche Reserven” für deren erneute Aussiedlungen. Aus Sicht der Botaniker*innen, wie Ndege und Burkart, ist es zentral, funktionierte botanische Einrichtungen besonders in Ländern des Globalen Südens zu etablieren. Wobei neben Fläche und Pflanzen, auch das Angebot eines öffentlichen Programms für Besucher*innen das Funktionieren der Einrichtungen kennzeichnet. Gibt es z.B. in Viña del Mar oder Santiago de Chile namenhafte Einrichtungen, zeigt die Weltkarte der botanischen Gärten, dass 3/4 der Einrichtungen in den USA und Europa sind, nicht aber dort, wo die tropischen Pflanzen leben und herkommen. Auch aus diesem Grund, also neue botanische Einrichtungen zu etablieren, stellt sich die Frage, ob Ableger und Samen der im kolonialen Kontext migrierten Pflanzen zurückzugeben werden sollen.
Auf unsere Frage, was die Restitutionsdebatte für die botanischen Gärten heißt, antwortet Burkart: „Ja, die Pflanzen sollten sofort zurückgeben werden! Und zwar mit einem riesigen öffentlichen Brimborium. Wir sollten sagen: Guckt mal was wir gemacht haben! Jetzt geben wir den Leuten ihre ausgestorbenen Pflanzen zurück: Bromelien, einmal aufgesammelt in Brasilien, am Mata Atlântica, eine der biodiversitätsreichsten Regionen der Welt mit der größten Zerstörung. 5 -10 Prozent sind davon noch übrig, und dass durch die kolonialen Bestrebungen wie Kakao- und Zuckerrohrplantagen bereits seit über 100 Jahren. […] Das einzige was es noch gibt, ist ein einziger Klon, der sich über 5 oder 50 botanische Gärten in Europa und Nordamerika verbreitet hat.“
Koloniale Bestrebungen, wie Monokultur und Botanik in ihrer transatlantischen Wechselwirkung zusammen zu denken, ist komplex. Was das für aktuelle dekoloniale Handlungsweise bedeuten kann, ist wenig eindeutig: Sind Pflanzen zwar durch Samen und Stecklinge prinzipiell vermehrbar, leben die „Originale” und deren direkte Nachfahr*innen in Europäischen Gärten und stabilisieren neokoloniale Herrschaftsgefälle, z.B. in Form der Weitergabe des Wissens um Pflanzen. Der botanische Garten Sansibars steht als ein Projekt, das durch Entwicklungshilfe finanziert ist, im Gegensatz zu z. B. Reparationszahlungen indifferent gegenüber der moralischen und rechtlichen Anerkennung der kolonialen Gewaltherrschaft da – und dennoch ist es ein wichtiges Projekt.[2] Das post/koloniale Erbe ist ein kompliziertes: Wie der Soziologe Stuart Hall schreibt, führt die europäische Kolonisierung, die 80 Prozent des Globus umfasste, zu einer grundlegenden Veränderung der Welt, in dessen Folge es keine isolierte und autarke Alternative zur globalen Moderne und seinen Institutionen geben kann. In seiner Funktion als Bildungseinrichtung – das ist dem Kustos in Sansibar wichtig – soll der botanische Garten den Tansianer*innen, lokal wachsende Pflanzen wieder näher bringen. So lässt sich beispielsweise aus der Schlingpflanze Bungo ein schmackhafter Saft gewinnen. Ndege sagt: „Die Einheimischen kennen die lokalen essbaren Pflanzen häufig nicht und geben viel Geld auf Märkten für eingeführtes Obst und Gemüse aus. Ich möchte, dass sie essen und schätzen, was in ihrer Umgebung wächst.“ Vor diesem Hintergrund erscheint der Garten in Sansibar, in seiner für lokale Bedürfnisse angepassten Art, nicht nur als Ort des Schutzes heimischer Pflanzen, sondern auch als Möglichkeit einer Unabhängigkeit von westlichen Märkten.
Credits // Text: Noam Gramlich und Lydia Kray
Nachtrag der Redaktion 01.03.2021: Mit dem Thema Botanische Gärten und Kolonialismus beschäftigen sich ebenfalls Kirstin Büttner und Rita Trautmann in ihrem Podcast „Curare, Kautschuk, Stevia – eine koloniale Spurensuche über das Pflanzensammeln“, welchen wir euch bei weiterem Interesse empfehlen.
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[1] Tansania (ohne Sansibar), Burundi und Ruanda waren von 1885 bis 1918 die deutsche Kolonie „Deutsch-Ostafrika“.
[2] Tansania hat auf Reparationszahlungen von der deutscher Regierung verzichtet.