Das koloniale Gerüst mit einem Presslufthammer einreißen

Das koloniale Gerüst
mit einem Presslufthammer einreißen

Originelle Interventionen zur Spitze des Kilimandscharo im Grassi Museum Leipzig

2008 feierte das Leibniz-Institut für Geografie in Leipzig den 150. Geburtstag von Hans Meyer mit der Ausstellung “Meyers Universum”. In dem für diese Veranstaltung veröffentlichten Katalog griffen verschiedene Autor:innen seine berühmte Expedition von 1889 zum Kibo, dem Gipfel des Kilimandscharo, auf und veröffentlichten Fotos, welche er unterwegs aufgenommen hatte. Sie reproduzierten so Meyers romantische (und koloniale) Wahrnehmung eines Riesen, den er sich zu zähmen vornahm, einer Landschaft, die er zu beherrschen suchte, einem Berg, den er übergipfeln wollte. Der Katalog zeigte auch das Bild der Hälfte eines Felsstücks, welches der Geograph vom Gipfel genommen und als Briefbeschwerer für sich aufbewahrt hatte.1 Wir haben Ihnen bereits vor einigen Jahren erzählt, dass er die andere Hälfte dem deutschen Kaiser Wilhelm II. geschenkt hatte, nachdem er die Spitze des Gipfels von ursprünglichen Namen „Kibo“ schamlos in „Kaiser-Wilhelm-Gipfel” umbenannte.

Doch heute bröckelt Meyers große imperiale Vision zusammen.

Der erste Riss kam am 8. Dezember 1961, als die “Kaiser-Wilhelm-Spitze” vom nun unabhängigen Tansania offiziell in “Uhuru Spitze” umbenannt wurde, eine dekoloniale Geste, die die Freiheit von der Kolonialherrschaft und nicht die koloniale Aneignung in den Vordergrund stellte.

Das zweite dieser steinigen Probleme in Meyers problematischem Vermächtnis sind die Benin-Bronzen. Meyer erwarb im Zuge der brutalen britischen Expedition gegen die Oba 1897 tatsächlich mehrere dieser geplünderten Meisterwerke und bot einige davon den ethnographischen Museen in Berlin und Leipzig an.2 Ab diesem Jahr werden diese jedoch nicht mehr in Deutschland ausgestellt, denn sie sind im Rahmen einer globalen Bewegung zur Rückgabe von Kunstgegenständen und Eigentum, die während der Kolonialzeit geraubt wurden, zurück auf dem Weg nach Nigeria.

Drittens: Europa ist dabei, sich mit den Tausenden von Überresten von Afrikaner:innen in seinen anthropologischen Sammlungen abzufinden. Wie viele seiner Zeitgenossen hatte Meyer menschliche Überreste der Chaga und Massai gestohlen und 1899 an das Berliner Museum für Völkerkunde schenkte.3 Diese Vorfahren warten nun nach Jahren Provenienzforschung, zusammen mit anderen Ahnenüberresten aus Ostafrika, auf ihre Rückführung.

Meyers Stolz wurde post mortem ein zusätzlicher Schlag versetzt, als die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten erfuhr, dass das Stück Stein, welches er ursprünglich dem Kaiser übergeben hatte, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verloren gegangen und durch eine Fälschung aus Meyers Mineraliensammlung ersetzt worden war. Das hat zur Schlussfolgerung, dass nur eines von Meyers zwei Stücken des Gipfels des Kilimandscharo intakt geblieben ist: sein Briefbeschwerer. Seit 2020 bietet das Antiquariat Kainbacher Meyers literarischen Nachlass, seine Fotografien sowie dieses authentische Felsstück zum Verkauf an… für mindestens 55.000€. Laut dem Künstler:innenkollektiv PARA verlange Kainbacher alleine für das Steinchen 35.000€ netto.4

Die letzte Schmach folgte am 3. März 2022 mit der Eröffnung der neuen Ausstellung des Grassi Museums in Leipzig. In einer Zusammenarbeit zwischen dem Museum, dem Künstlerkollektiv PARA und den tansanischen Künstlerinnen Valerie Asiimwe Amani und Rehema Chachage erreicht Meyers Kolonialprojekt schließlich seinen Tiefpunkt. Diese Protagonisten und ihre Werkzeuge – ein Presslufthammer, eine Geisel und eine sezierende Schere – liefern erfrischende und freche Perspektiven auf den deutschen Kolonialismus und laden die Besucher:innen ein, diese Geschichte mit Humor, Kreativität und Selbstreflexion zu betrachten.

Ein Preßlufthammer liegt im Treppenhaus des Grassi Museums für Völkerkunde in Leipzig und wird für eine kreative Renovierung benutzt: Der Sockel der Büste des ehem. Direktors Karl Weule wird in mehreren Repliken der Spitze des Kilimandscharo recyclet. (Foto: Y. LeGall)

Ein Preßlufthammer

Wenn Meyers winziger Briefbeschwerer für 35.000 € verkauft werden kann, während einige der Bewohner der Kilimandscharo-Region keinen Zugang zu fließendem Wasser und Strom haben, werden Sie zustimmen, dass in dieser Welt etwas nicht stimmt. Gleichzeitig, wenn dieser Stein so wertvoll ist wie das Gold, das aus den Kolonien extrahiert wurde, warum ihn dann nicht nach Tansania zurückbringen, damit er als touristische Attraktion genutzt werden kann?

Mit diesen Fragen im Hinterkopf entwickelte PARA die Ausstellung “Berge versetzen”, eine künstlerische Intervention, die die ökonomische Dimension des kulturellen Erbes aus der Kolonialzeit aufzeigt. Um das Geld für den gleichen Preis wie für den echten Gipfel aufzubringen, hat das Kollektiv beschlossen, eine Crowdfunding-Kampagne zu starten. Besucher:innen der Ausstellung (und jede Person mit einem Smartphone) können in der Tat Repliken des Felsens für 20 Euro kaufen. Repliken, welche von den Künstler:innen in einem Ausstellungsraum im Grassi Museum hergestellt werden, der ausschließlich der Produktionskette gewidmet ist.

Diese Repliken stammen jedoch nicht vom Kilimandscharo, sondern von dem Museumsgebäude selbst. Mit Hilfe eines Presslufthammers demontieren die Künstler:innen einen Sockel, der die Büste des ehemaligen Direktors des Leipziger Museums, des Ethnologen Karl Weule, beherbergt hatte. Nach der Statue von Hermann von Wissmann ist nun ein weiterer Kolonialpatriarch gefallen, der vom deutschen Kolonialismus in Ostafrika profitierte. 1906, inmitten im Majimaji-Krieges (1905-1907), “sammelte” Weule tatsächlich Masken im Süden des heutigen Tansania. Eine Sammlung, die ihm in Deutschland Lorbeeren einbrachte. Dennoch ist bis heute unklar, wie er so viele Makonde-Masken in die Hände bekommen konnte.

Weit davon entfernt, das Haus des Meisters mit seinen eigenen Werkzeugen zu demontieren, fragen sich das Museum und PARA weiterhin: Welche Rolle kann die Architektur bei der Bekämpfung kolonialen Unrechts spielen? Wie sollte Deutschland mit den zahlreichen kolonialen und patriarchalischen Wahrzeichen umgehen, die unter dem rechtlichen Deckmantel des Denkmalschutzes bewahrt werden? Diese Frage haben wir auch der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten gestellt, als wir über die Zukunft der Reiterstatue des Sklavenhändlers Friedrich Wilhelm diskutierten. In einem Streit über das Schicksal dieser steinernen Figuren haben PARA und Grassi beschlossen sich auf die Seite des dekolonialen Fallism und dessen Kreativität zu schlagen.

Links: Video von PARAs Besteigung der Zugspitze. Rechts: Videokameraansicht der geiselgenommene Zugspitze (Foto: Y. LeGall)

Eine kuriose Geisel in einem Safe

Eine weitere Schicht, die in dieser Ausstellung aufgedeckt wird, ist die koloniale Aneignung der Natur. Meyer fühlte sich berechtigt, Berggipfeln Namen zu geben; er benannte nicht nur die Spitze des Kilimandscharo um, sondern auch den zweiten Gipfel des Berges, den Mawenzi, in „Purtscheller Spitze“ zu Ehren seines österreichischen Kollegen. Der Kaiser wiederum fühlte sich berufen, den Kibo von Ostafrika nach Potsdam zu verlegen und ihn symbolisch von seiner einheimischen Bevölkerung fernzuhalten, so wie das afrikanische Kulturerbe von Afrikaner:innen ferngehalten wird und dank Grenzregimen und Zugangspolitiken in europäischen Museen verwahrt wird.

In einer ähnlichen Geste beschloss PARA, den Gipfel des höchsten Berges Deutschlands zu stehlen: die Zugspitze in Bayern. Nach dem erfolgreichen Aufstieg nahmen sie ein Stück Stein und brachten es nach Leipzig, wo es in einem Tresor als Geisel gehalten wird. Der Preis für Deutschland (oder Bayern), um seinen höchsten Gipfel zurückzubekommen: 35.000€. Sollte jemand Interesse an der Befreiung der Zugspitze haben, könnte die Crowdfunding-Kampagne schnell ihr Ziel erreichen und so eine Rückführung des Kilimandscharo-Gipfels stattfinden.

PARA hat jedoch noch nicht entschieden, ob sie das gesammelte Geld verwenden würden, um den echten Stein zurückzukaufen. Andere Möglichkeiten bleiben offen, wie beispielweise die finanzielle Unterstützung lokaler NGOs in der Kilimandscharo-Region. Diese Flexibilität spiegelt des Grassi Museums neue kuratorische Praxis wider, die es ihm ermöglicht, spontan auf aktuelle Prioritäten und politische Entwicklungen zu reagieren. Ein Beispiel: In einer Glasvitrine, die Ostereiern aus Osteuropa gewidmet ist, steht ein ukrainisches Ei direkt neben den russischen, wenn auch etwas prominenter und geschützter platziert.5

Einstellung der Video-Installation von Valerie Asiimwe Amani und Rehema Chachage. Links: der sezierte Körper Hans Meyers. Rechts: Eine seiner zahlreichen Fotos des Kilimandscharos. (Foto: Y. LeGall)

Schere, Collage und das Sezieren des meyerschen Kolonialprojekts

Bei diesem Rückblick auf die Geschichte des Gipfels sollte etwas nicht vergessen werden, nämlich Meyers visuelle Aneignung tansanischer Landschaften. In seinen Fotografien und Zeichnungen ist der Kilimandscharo kahl, bis die deutsche Reichsflagge gehisst wird. Wie können wir uns heute mit dieser kolonialen Bildsprache einer Terra Nullius auseinandersetzen, einem Stück Natur, das bereit ist, erobert, bestiegen und seiner Ressourcen beraubt zu werden? Rehema Chachage und Valeria Asiimwe Amani schlagen eine Collageästhetik vor, die uns Julie Goughs Hunting Ground ins Gedächtnis rief – eine Installation in dem die Trawlwoolway tasmanische Künstlerin die Gewalt hinter der kolonialen Darstellung der Landschaft Australiens offenlegte. In Leipzig, die zwei tansanische Künstlerinnen schneideten Meyers Bilder des Berges und klebten sie nebeneinander. So erzeugen sie einen oszillierenden, schwankenden und schwindelerregenden Blick auf Meyers Besessenheit, eine Gegenüberstellung, die sein größenwahnsinniges Streben nach Ruhm verdeutlicht. In ihrer Videoprojektion entlarven sie zudem den Mythos eines legendären Bergsteigers, sezieren humorvoll Hans Meyers Körper und stellen nicht mehr den Man sondern die Gliedmaßen in den Vordergrund, die ihn auf den Gipfel des Berges trugen. Diese metabolische Rückkehr erinnerte uns daran, dass Meyers sterblichen Überreste nicht weit vom Museum entfernt auf einem Leipziger Friedhof liegen, einem Grabstein, der gelegentlich von kritischen Führungen unserer Kolleg:innen von Leipzig Postkolonial besucht wird.

Es wirkt dabei geradezu passend, dass Amani nicht nur der Name des Künstlers der Ausstellung ist. Es war auch der Name von Meyers Koch, dessen Beitrag zur Besteigung 1889 von der deutschen Geschichtsschreibung, einschließlich der Ausstellung 2008, schnell vergessen worden war. Wir werden ihn jedoch nicht vergessen: Muini Amani, der Meyers Sachen umhertrug, Wasser für ihn und Purtscheller holte, das Lager aufbaute und Feuer anzündete. Muini Amani, der jedoch zu Schwarz gewesen wäre, um Berge in seinem Namen zu verdienen.

Autoren: Yann LeGall & Paul Urbanski
 

Auch zum Lesen: was unsere Kollegen der tansanischer Aktivist Mnyaka Sururu Mboro und kenyanische Wissenschaftler Oduor Obura über die Spitze des Kilimandscharo im Potsdamer Neuen Palais zu sagen haben.

 

 

4: Bastian Sistig und Jonas Fischer von PARA sagten uns, Kainbacher hätte ursprünglich bis zu 250.000€ für den Briefträger verlangt, ein Preis, für den Interessenten sich sogar gemeldet hätten. Nachdem die Künstler das Antiquariat auf den problematischen Kontext aufmerksam gemacht haben, sei Kainbacher bereit geworden, das Stück für den Einkaufspreis – 35.000€ netto – zu verkaufen.

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