Schädel X: Echos des deutschen Kolonialismus in einem Schädel

Vom 4. bis zum 7. Mai 2016 fand in den Berliner Sophiensaelen die Lecture Performance Schädel X der Produktion Flinn Works statt. Dank eines eindrucksvollen historischen Forschungsaufwands zur Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte und des Berichts von Gerhard Ziegenfuß gelingt es der Vorstellung, an die Sammelwut der Deutschen zu erinnern, die menschliche Gebeine damals kolonisierter Völker en masse nach Europa verschleppten. Sie setzt sich sowohl mit dem jetzt anerkannten Völkermord an den Herero, Nama, Damara und San im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika als auch mit der  Kolonialgewalt im Kilimandscharo-Gebiet des heutigen Tansania (damals Deutsch-Ostafrika) auseinander.

 
Photo Weaving by Shaiza Jifri (courtesy of Flinn Works production)

Gerhard Ziegenfuß besitzt einen eigenartigen anatomischen Teil: Einen menschlichen Schädel. Sein Vater hat diesen für seine Studien aus einem Museumslager der DDR geschmuggelt. Als der Sohn eine Requisite für ein Vorsprechen von Shakespeares Hamlet in der Theater AG brauchte, nahm er den Schädel vom Kaminsims seiner Eltern mit. „So macht Bewußtsein Feige aus uns allen“, heißt es im Stück. Aber Herr Ziegenfuß hat seit seiner seitdem den Mut gefasst, den „Spott und Geißel“ der Zeiten nachzugehen, denen der vorherige Bewohner des Schädels sicherlich ausgesetzt gewesen ist. Die Performance Schädel X erzählt die Geschichte von der Suche nach der Herkunft von Gebeinen, die deutsche Institutionen und Privatpersonen durch früheren, kolonialen Raub vererbt bekommen haben.

Schädel X ist eine Geschichte von kolonialer Gewalt: Es geht um Mangi Meli, der von den deutschen Schutztruppen Deutsch-Ostafrikas in der Nähe von Moshi (in Tanzania) gehängt wurde, weil er anti-kolonialen Widerstand leistete. Es ist die Geschichte seiner Nachkommen, der Chagga Community, die sich gezwungen sehen mit einem Grab ohne Körper mit der Vergangenheit abzuschließen. Es ist die Geschichte von Alois Ziegenfuß, dem Urgroßvater unseres Protagonisten, dessen Postkarten an seine Familie aus Deutsch-Südwestafrika grausame Fotos von gefangenen Hereros zeigen, die an eine ästhetische Faszination für rassistische Gewalt erinnern, die genauso in Fotografien von US-amerikanischen Lynchmorden gefunden werden kann. Diese Bilder werden alle auf den nackten Schädel projiziert, der das zentrale Element der visuellen Belege der Thematik und des Filmmaterials von tanzanischen, namibischen und deutschen Aktivist_innen ist, die eine Rückgabe der Gebeine fordern.

Das Publikum von Schädel X wurde gleich zu Beginn gebeten Kopfhörer aufzusetzen; vielleicht für Übersetzungen, dachte ich, als ich auf einem der letzten Plätze auf der einzigen, mobilen Zuschauertribüne Platz nahm, die so aufgestellt worden war, dass nur ein Drittel des Raumes im Erdgeschoss der Sophiensäle genutzt wurde. Der performative Vortrag war ausverkauft. Dennoch war der Rahmen intim. Konradin Kunze spielte die Rolle von Gerhard Ziegenfuß und sprach so direkt mit dem Publikum, dass viele den Eindruck bekamen mit dem realen Gerhard Ziegenfuß zu sprechen. Die Mehrdeutigkeit ist ausgereift; sogar der Schädel sieht überzeugend echt aus, obwohl er eine Nachbildung ist. Während Kunze vorsichtig eine komplexe Bild- und Toninstallation mit dem Laptop bedient, sowie eine Loop Station und hochempfindliche Mikrophone, unterbricht der naive Protagonist seine Geschichte mit musikalischen Zwischenspielen. Diese reichen von einer acapella Aufnahme von Kimbo kyetsika Meli (eine Ode für Sultan Meli) von 1908 zu einer kakophonischen Überlagerung von Geräuschen aus den anatomischen Wissenschaften mit kaum ertragbaren, rassistischen Äußerungen, die genutzt wurden um Nicht-Europäer_innen herabzuwürdigen. Jetzt verstand ich, wofür die Kopfhörer gedacht waren.

Gerhard Ziegenfuß will herausfinden, wie der Schädel in seinen Besitz kam, damit er ihn zurückgeben kann an die Gemeinschaft, aus der er stammt. Während er die Geschichte seines Urgroßvaters rekonstruiert, glaubt er zunächst, dass der Schädel im Garten einer Villa ausgegraben worden sein muss, die seiner Familie gehörte und neben einem namibischen Friedhof lag. Da es an Archivmaterial fehlt, packt der Protagonist den Schädel immer wieder aufs Neue ein und aus,  schickt ihn zur Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, zum Charité Human Remains Project und zu einem DNA Labor an der Universität Münster. Aber in diesem Bereich scheint die Expertise der deutschen Wissenschaftler_innen limitiert zu sein. Tatsächliche Konversationsschnipsel zwischen Gerhard Ziegenfuß und dem Doktor der Anatomie Winkelmann und dem Biologen Dr. Vennemann werden wiederholt und verschwinden graduell, so wie auch die Hoffnung schwindet, die Wahrheit über den Schädel zu erfahren. Die einzige Wahrheit ist seine unheimliche Präsenz.

Die Kopie eines Schädels liegt auf dem Tisch, während es auch projiziert wird (Foto: Y. LeGall)

Der Schädel liegt auf der Mitte eines Tisches und wird zusätzlich mit einem Beamer an die Wand projiziert. So steht er konstant im visuellen und klanglichen Vordergrund neben der Stimme von Ziegenfuß. Während sein eigener Schädel „mit ihm spricht“, ist der andere abhängig von Ziegenfuß‘ Handlungen, die ihn zum Sprechen bringen könnten oder (eher:) ihn widerhallen zu lassen. Dank einer Reihe von verstärkenden Effekten, die die Geräusche des Schädels oder derer, die mit ihm gemacht werden, entstellen oder verschönern, bekommt der Schädel eine eigene Stimme. Die anatomischen Vermessungen seiner Einzelteile lassen einen Rhythmus entstehen. Der Hohlraum im Inneren erzeugt (einen) Hall. Die Geräusche von Packpapier und Pappe werden so vertraut nach dem zahlreichen Ein- und Auspacken, dass sie die Vorstellung erlauben, ein Karton könnte ein friedvoller Ruheort werden. Nichtsdestotrotz, die musikalische Interaktion zwischen Konradin und dem Schädel verschleiern nicht die Tatsache, dass er ihn eigentlich loswerden will. Als Festus Muundjua, der Repräsentant des Herero Genocide Committee von Ziegenfuß‘ Last erfährt, fragt er:„Wie kannst du überhaupt mit einem Toten zusammenleben?“

Die beruhigenden Melodien von Schädel X sind nicht trennbar vom Tumult um den Schädel herum, der verkörpert wird durch den komplizierten, unwiederbringlichen Kontext seiner Aneignung und der nachklingenden Wichtigkeit seiner Repatriierung. Trotz des weißen, männlichen Erzählers, drückt Schädel X eindrucksvoll das Verlangen nach Entschädigung und Wiedergutmachung aus, das endlich erhört werden sollte. Es zeigt und inszeniert aktuelle Debatten über die Rückgabe von menschlichen Gebeinen in Deutschland: Auszüge von einem RBB Radio Beitrag, das Gerhard Ziegenfuß‘ Recherche nachverfolgt, treffen auf die Stimmen von Isaria Meli (ein direkter Nachfolger von Meli), Upendo Moshi (Vorsitzender der Chagga Community) und Mnyaka Sururu Mboro (Gründer von Berlin Postkolonial e.V.), die die Rückgabe der Gebeine ihrer Vorfahren fordern. Die Musik eines deutschen Imperial Marsches wird kontrastiert mit acapella Kiswahili Gesang. Die formale Stimme des namibischen Botschafters trifft zusammen mit Muundjuas Hinweis den Schädel wegzuwerfen. Dr. Winkelmann schiebt die Schuld für die rassistische Aneignung des Schädels Felix von Luschan (dem früheren Direktor der Abteilung Afrika-Ozeanien des Museums für Völkerkunde, 1904-1910) und anderen Anthropologen zu. Makaber wird es an den Stellen, an denen aus Alois Ziegenfuß‘ Tagebuch aus Deutsch-Südwestafrika vorgelesen wird. Die Polyphonie ist komplex – gewaltige Ausbrüche und emotionale Aufschreie, gewichtige (offizielle) Stimmen und minoritäre (lokale) Stimmen, Einigkeit in der Intention, aber Unstimmigkeit darüber wie der Schädel zurückgegeben werden soll, eine Entschuldigung für den Genozid und Würdigung kolonialer Opfer. Der Schädel steht die ganze Zeit im Zentrum, als Grund für die Dissonanzen, aber auch als Empfänger.

Nach zwei Stunden aufregender Ermittlung wissen wir immer noch nicht, woher der Schädel nun kommt. Aber immerhin ist seine todesgleiche Ästhetik nun vertrauter geworden, menschlich.

Flinn Works website: http://flinnworks.de/

Credits // Author: Yann Le Gall
Übersetzung: Anna von Rath

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