Das Neue Palais und die Spitze des Kilimandscharo
Das Neuen Palais wurde zwischen 1763 und 1769 im Auftrag von Friedrich dem Großen errichtet und gilt als das letzte preußische Barockschloss. Das Schloss war ein Zeichen für Friedrichs Macht: Mit dem Bau zeigte er, dass er trotz des gerade erst beendeten Siebenjährigen Kriegs über genügend Mittel verfügte, ein neues Schloss zu bauen. Friedrich lebte gar nicht im Neuen Palais. Er nutzte es meist nur um wichtige Gäste zu empfangen. Ein Jahrhundert später renovierte der Deutsche Kaiser Wilhelm II. das Neue Palais. Zwischen 1888 und 1918 war es seine Lieblingsresidenz.
Die prächtigsten Räume im Neuen Palais sind der Marmorsaal und Grottensaal. Die Wände des Grottensaals sind mit hunderten Steinen und Muscheln dekoriert. Das galt damals als modisch. Unter der europäischen Aristokratie waren Steine und Muscheln ein beliebtes Geschenk.- Sie wurden von Entdeckern – zumeist Männern – an fernen Orten gesammelt und nach Europa gebracht. Diese Mitbringsel und Deko-elemente betrachteten die Adeligen als exotisch und Beweis für ihre Weltgewandtheit. Unter den Steinen im Neuen Palais befindet sich einer, der uns besonders interessiert. Dieser Stein ist an einem Miniaturberg an der nördlichen Wand befestigt. Darunter steht geschrieben: „Spitze des Kilimandscharo – 1890“.
Um zu verstehen wie die Spitze des Kilimandscharos nach Potsdam kam, müssen wir einen Blick in die Geschichte werfen. Im November 1884 versammelten sich Vertreter der europäischen Mächte in Berlin zur sogenannten Kongo Konferenz. Während ihrer drei Monate andauernden Diskussionen teilten sie den afrikanischen Kontinent unter sich auf wie einen Kuchen. Es waren keine Vertreter*innen aus Afrika anwesend. Deutschland beanspruchte vier Regionen für sich: Togo, Kamerun, Südwest Afrika und Ostafrika. Deutsch-Ostafrika umfasste die Gebiete, die heute Tanzania, Ruanda und Burundi sind. In der nördlichen Region der Kolonie wurde ein Stützpunkt in Moshi errichtet, an der südlichen Flanke des Kilimandscharos. Diese Region war das zu Hause der Chagga und ihres Königs Mandara. Dorthin reiste der deutsche Geograph Hans Meyer im Jahr 1887 und blieb für zwei Jahre.
Hans Meyer erkundete Ostafrika, um mehr über die Topographie und Menschen zu lernen. Während seiner Reisen machte er Fotos von Flora, Fauna und Afrikaner*innen und er sammelte kulturelle Artefakte. Als Bergsteiger war er erpicht darauf als erster Europäer den Gipfel des Kilimandscharo zu erreichen, der mit seinen 5.900m der höchste Berg Afrikas ist. Am 6. Oktober 1889 erreichte er mit seinen Expeditionsmitgliedern den Gipfel. Meyer stellte die Fahne des deutschen Kaisers auf und sammelte Vulkangestein vom Krater des Kilimandscharos ein. Obwohl der höchste Punkt des Berges von den Chagga Kibo genannt wurde, taufte Meyer ihn „Kaiser-Wilhelm-Spitze“. Diese symbolische Geste untermauert die deutsche Kolonialherrschaft über Ostafrika.
Natürlich bestieg Meyer den Kilimandscharo nicht alleine. Tatsächlich wäre er nie erfolgreich gewesen ohne die Hilfe von anderen Expeditionsmitgliedern. Unter ihnen war der Träger Pangani und Koch Muini Amani, der Österreicher Ludwig Purtscheller und drei somalische Träger, Mohammed, Abdallah und Achmed. Als sie die zweite Bergkuppe erreichten, die Mawenzi heißt, verlieh Meyer auch dieser einen neuen Namen. Er nannte sie „Purtscheller Spitze“ zu Ehren des einzige anderen europäischen Begleiters. Die afrikanischen Begleiter verdiente es nach Meyer scheinbar nicht, dass Gipfel nach ihnen benannt wurden. Sie waren nur verantwortlich für das Gepäck. Manche wurden von ihren chiefs geschickt, um den Europäern zu helfen. Andere bekamen einen niedrigen Lohn dafür, dass sie Gepäck trugen, Wasser holten, die Zeltlager für die Nächte aufbauten, kochten und Wache hielten.
Nach seinem Erfolg segelte Hans Meyer zurück nach Deutschland. Er wurde vom deutschen Kaiser persönlich empfangen. Meyer schenkte Wilhelm II. die Hälfte des Lavasteins, den er auf dem Berggipfel eingesammelt hatte. So bekam der Kaiser selbst ein Stück der Kaiser-Wilhelm-Spitze. Dieser Stein wurde letztendlich Teil der Dekoration des Grottensaals im Neuen Palais hier in Potsdam. Seine eigene Hälfte nutze Meyer als Briefbeschwerer. Er wurde lange Zeit in seiner Familie weitergereicht. Zuletzt wurde der Briefbeschwerer versteigert.
In den 1980er Jahren untersuchten Wissenschaftler*innen die Spitze des Kilimandscharos im Neuen Palais. Sie stellten fest, dass der originale Basaltstein von Meyer durch einen Biotit Schiefer ersetzt worden war. Das bedeutet, dass der originale Stein zu irgendeinem Zeitpunkt verloren gegangen sein muss oder gestohlen wurde. Die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten erhielt später ein ebenbürtiges Ersatzstück. Der Ersatzstein stammt aus Hans Meyers Sammlung, die sich im Institut für Geologie in Berlin befindet. Wenn Sie das Neue Palais besichtigen, wird die Spitze des Kilimandscharo nicht unbedingt erwähnt und der Stein ist nicht bei jeder Führung zu sehen. Es bleibt die Frage, warum er so authentisch wie möglich ersetzt werden musste. Aber dieser Stein ist nicht vom Kibo, dem höchsten Gipfel des Kilimandscharos.
Am Ende des ersten Weltkriegs musste Deutschland seine kolonialen Territorien abgeben. Deutsch Ostafrika wurde geteilt. Großbritannien erhielt das Mandat über Tansania und Belgien für Ruanda und Burundi. Aber Deutschland besitzt immer noch viele Artefakte aus der Kolonialzeit. Der Umgang mit gestohlenen afrikanischen Steinen und Kunstobjekten wird derzeit hitzig diskutiert. Viele afrikanische Aktivist*innen fordern die Rückgabe oder Reparationen.
Veränderungen brauchen Zeit. Sogar in Schulbüchern blieb der Name des Kibo „Kaiser-Wilhelm-Spitze“ bis zur tansanischen Unabhängigkeit im Jahr 1961. Erst im Prozess der Dekolonisierung wurde der Gipfel in Uhuru umbenannt. Uhuru heißt Freiheit auf Kiswahili.
Text von Yann Le Gall, Übersetzung ins Deutsche von Anna von Rath
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